Das Kreuz am Thurner Hof

 In unserer schnellebigen Zeit bleibt wenig Muße, die Zeichen am Wege zu sehen und deren Herkunft und Geschichte zu erfahren. Die Wegekreuze scheinen Relikte aus alter Zeit zu sein. Sie erinnern uns an Episoden aus dem Leben unserer Voreltern. Im Dellbrücker Raum finden wir derer vier: Das Heiligenhäuschen am Mauspfad, an der Einmündung des Buchenkampes südlich des Ostfriedhofes, das an zwei uralten Wegen liegt, viele Sagen kennt und vielleicht eine heidnische Opferstätte markiert.

Dellrücker Hauptstr. / Im Riephagen
Dellrücker Hauptstr. / Im Riephagen

 

 

 

Ferner das Gedenkkreuz Ecke Dellbrücker Hauptstraße / Im Riephagen mit der Jahreszahl 1762, das den gewaltsamen Tod des Jakob Lüttgen zur Zeit des siebenjährigen Krieges beschreibt. Des Weiteren ein Wegekreuz in Strunden aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, das vielleicht ein Mühlenbesitzer Ecke Gierather Straße / Mühlenhofsweg errichten ließ und ein Wege- und Hofkreuz, das Mielenforster Straße 1, im Bereich des Thurner Hofes, dem Wahrzeichen Dellbrücks, steht. Die Inschrift des letzteren lautet: Betet für die Seelenruhe der Eheleute A.J. Schüllgen gest. den 23.ten Jan 1819 und C.T. Schülgen geb. Boisseree verschieden.  Den 17ten Septbr 1817.

An diesem Kreuz wurde seit Bestehen der Josefspfarre im Jahre 1898 am Fronleichnamstag der zweite Segen erteilt. Der Besitzer des Hofgutes und seit 1911 der jeweilige Pächter, hatte die ungeschriebene Verpflichtung, den Segensaltartisch vor dem Kreuz zu errichten und für den entsprechenden Schmuck Sorge zu tragen. Die Stadt Köln erwarb 1911 den Thurner Hof und umgab das Kreuz in der Folge mit einem Gitter und Fliederbüschen. Die Familie Werres bewirtschaftete den Thurner Hof von 1912 bis 1928.

Wegekreuz Ecke Gierather Str. / Mühlenhofweg, Strunden
Wegekreuz Ecke Gierather Str. / Mühlenhofweg, Strunden

Im Folgenden stelle ich Episoden vor, die sich im Bereich des Hofkreuzes zugetragen haben. Episoden aus den Anfängen der 20er Jahre unseres Jahrhunderts, „aus meiner Jugenderinnerung“.

Als erstes soll hier von Kesselflickern berichtet werden. Diese zogen in den Notjahren nach dem ersten Weltkrieg von Ort zu Ort und ließen sich jedesmal auf dem kleinen Areal vor dem Kreuz nieder. Die Kesselflickerfrauen erbaten bei den Dorffrauen die defekten Kochkessel. Regelmäßig schauten wir dem Handwerker zu, wenn der Blasebalg das Holzkohlefeuer entfachte, das den Lötkolben erhitzte. Zunächst wurde der Boden des Emaillekessels herausgeschnitten und der Rand umgebördelt. Ein passender neuer Boden wurde aus Weißblech, das damals aus den USA importiert wurde, zugeschnitten. Die mit Lötwasser bestrichene Bördelung wurde mit dem erhitzten Lötkolben verzinnt und schließlich der neue Boden eingelötet. Wie die Kesselflicker, so erschienen auch mehrmals jährlich die Scherenschleifer. Sie fristeten ein ebenso jämmerliches Dasein. Die von den Frauen eingesammelten Scheren und Messer wurden auf einem fußbetriebenen Schleifstein geschärft. Ort der Handlung war wiederum der kleine Platz vor dem Hofkreuz. Bei gutem Wetter kam fahrendes Volk und ließ einen Bären vor dem Hofkreuz tanzen. Der Bär wurde an einem Nasenring geführt und bewegte sich zu dem Rhythmus von Tamburin und Schelle. Zum Schluß sammelten die Künstlerkinder  kleine Beträge von den eilig herbeigelaufenen Zuschauern.

 

Hofkreuz Thurnerhof
Hofkreuz Thurnerhof

Die Kinder der Hauptstraße vom Thurner Hof bis hin zur Kirche bildeten eine Spielgemeinschaft. Nicht selten endeten die Spiele mit einem Abenteuer. Einer von uns hatte einen Benzinkanister gefunden, den die Engländer, die ehemaligen Besatzer, hinterlassen hatten. Wir füllten Wasser zu dem Fahrradlampenkarbid in den Kanister. Das sich entwickelnde Acetylengas sollte nun zur Entzündung gebracht werden. Dies klappte nicht gleich. Unser Spielkamerad Willi Höller, der eine starke Rückgratverkrümmung hatte, woher weiß ich nicht, war dazu ausersehen, das Gemisch zu zünden. Der Höllers Willi wurde von uns allen voll akzeptiert, weil er besonders abenteuerlustig war. Er wohnte zusammen mit einem älteren Jungen namens Matthias Decker auf dem Rodenbachs Hofe an der Hauptstraße. Ohne weiter darüber nachzudenken hielt der Willi ein brennendes Streichholz über die Kanisteröffnung. Knall und Stichflamme versengten dem Wagemutigen die vorderen Haare und die Augenbrauen total. Der Schrei: „Mattes hilf mir!“ half ihm da nicht mehr. Natürlich hätte es auch schlimmer ausgehen können. Mattes war für ihn gewissermaßen ein Schutzengel. Der vorher kantige Kanister hatte sich in eine Ballform verwandelt. Unterdessen hatte sich erneut „Knallgas“ entwickelt. Wir gingen nun vorsichtiger ans Werk. Eine Zündschnur aus Zeitungspapier wurde nun angezündet. Wir gingen in Deckung. Es blieben nach der ohrenbetäubenden Explosion nur noch Fetzen übrig.

Vor dem Kreuz verweilten auch oft durchreisende Sinti und Roma. So erinnere ich mich lebhaft an einen Planwagen, der von einem mageren Pferd gezogen wurde. An dessen vorstehenden Hüftknochen hätte man einen Hut aufhängen könne. Durch eine Öffnung hinter dem Fahrersitz schauten uns kleine und große Kinder mit großen, hungrigen Augen an. Es war ein ganz erbärmlicher Anblick. Mein Vater duldete es, daß der Klepper auf der Fohlenwiese graste und Frischwasser aus der Zapfstelle im Pferdestall geholt werden durfte. Meine Mutter erbarmte sich der Kinder und schenkte den Hungrigen Milch und Brot.

Ein andermal hatte sich eine kleine Gruppe von weniger bemittelten Leuten vor dem Kreuz versammelt, um für soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren. Im größeren Stil hatten sich Demonstranten mit Kindern auf dem Arm, in gleichem Anliegen, begleitet von Schallmaienmusik, aus Kalk kommend auf den Weg zum Sassenhof nach Köln gemacht. Zu der Dellbrücker Gruppe hatten sich auch unsere beiden Knechte Stefan und Wallek eingefunden. Sie wußten wahrscheinlich nicht, was sie dabei zu suchen hatten, denn sie hatten doch ein, wenn auch bescheidenes aber ausreichendes Einkommen. Aufregend war das ganze schon. Besonders, daß ich bei der öfters hochgehenden Diskussion in der hereinbrechenden Dämmerung als zehnjähriger am Kreuz zuhören durfte. Mein älterer Bruder Hermann hatte sich aus Sicherheit  einen armlangen Knüppel mit Nägeln beschlagen und mit einer Handschlaufe zurechtgemacht, falls es zu einer Eskalation vor dem Hauseingang kommen sollte. Jedoch alles blieb friedlich und die Versammlung löste sich ohne Gewalt auf.

Wie schon zuvor erwähnt, wurde zu Füßen des Kreuzes der Fronleichnamsaltar aufgebaut. Der neugotische, rund 1,80 Meter hohe Tabernakel, war innen mit weißer Seide ausgekleidet. Das Lammgottes war mit Goldfäden in tadelloser Arbeit daraufgestickt. Sogar auf der gegenüberliegenden Straßenseite hingen Fahnen in den Kirchenfarben gelb-weiß und den rot-weißen Farben der Stadt Köln. Die Fahnenstangen waren mit geflochtenem Grün untereinander verbunden. Unsere Polen, die besonders gläubige Katholiken waren und öfters nach Köln fuhren, um eine Messe in polnischer Sprache mitzufeiern, halfen beim Auf- und Abbau. Den Altartisch bedeckte ein rotes Tuch, darüber lag eine weiße Spitzendecke. Unsere Mutter sparte nicht am Blumenschmuck, und unser Wohnzimmerteppich bedeckte die Stufen. Zwei vergoldete, schon fast antike Leuchter, die Carl Krein in einem Tresor verwahrte, gaben der feierlichen Handlung beim Fronleichnamssegen den würdigen Rahmen. Der Umkreis des Segensaltares war mit Maien, den Birkenzweigen aus dem Thielenbrucher Wald, abgesteckt. Wenn der Altartisch zu sehr mit Blumen zugestellt war, schob Pfarrer Hillmann diese zur Seite, um etwas Platz für das Evangelienbuch zu haben. Er mußte sich sehr hochrecken um die Monstranz zum Segengeben zu ergreifen, und ich bildete mir ein, daß er dabei eine besondere Ausstrahlung hatte. Nach der Feier wurde der Tabernakel im Türmchen abgestellt.

 

Pastor Dr. Friedrich Hillmann, unser Dellbrücker Seelsorger, war ein realistischer und auch stimmgewaltiger Prediger. Er war den armen Leuten zugetan. Eine Witwe mit vier unmündigen Kindern bestellte bei ihm eine heilige Messe für das Seelenheil ihres an Bleivergiftung gestorbenen Mannes. Pastor Hillmann nahm das übliche Geld mit dem Hinweis nicht an und sagte: „Ich bezahle die Messe!“ und empfahl der Frau: “Kaufen sie für den Betrag ihren Kindern etwas zu Weihnachten!“ Weil die Kirchenorgel sehr im Unstand war und der Kirchenvorstand keine Mittel für eine neue bereitstellen wollte, ereiferte er sich in einer Predigt: „Man müßte eine Axt nehmen und den ganzen Kasten zusammenhauen.“ Da er angeblich wegen gesundheitlicher Beschwerden nicht mehr in der Lage war, die große Pfarre zu leiten, hat man ihn nach Ahe, in ein kleines Eifeldorf versetzt. Bei seiner letzten Predigt in St. Josef standen die Gläubigen am Hauptportal heraus, alle wollten seinen Abschiedsworten zuhören, die er mit lauter Stimme vortrug. Besonders die sozial schwachen Leute waren mit der Entwicklung nicht einverstanden. Es wurde der Hillmannbund gegründet, der das Ziel verfolgte, den beliebten Seelsorger wieder nach Dellbrück zurückzuholen. Eine Abordnung hatte sogar den Gang zum erzbischöflichen Generalvikariat nicht gescheut. Die Anstrengungen blieben jedoch erfolglos. Die im Hillmannbund vereinigten Dellbrücker mieden die Josefskirche und somit den neuen Pfarrer Korf. Sie besuchten den Sonntagsgottesdienst in den umliegenden Kirchen. Die „Hillmänner“ wallfahrteten auch mehrmals nach Ahe. In einer sich entwickelnden Geselligkeit wurde sogar ein Maienpaar gewählt. Eine Mädchengruppe tanzte, eine Kette bildend, über die Hauptstraße und sang: „Wir halten fest und treu zum Hillmannbund, zum Hillmannbund!“ Der Maibaum stand auf dem Hof des Ballhauses Lenzen an der Erikastraße. Mit der Zeit hat der Hillmannbund sein eigentliches Ziel aus den Augen verloren. Er begeisterte sich nur noch in geselligen Veranstaltungen und hat sich nach wenigen Jahren aufgelöst.

Es folgen einige Episoden aus dem weiteren Umkreis des Hofkreuzes.

Auf dem Rodenbachs Hof, er liegt zwischen Kirche und Schule an der Hauptstraße, wohnten mehrere Familien unterschiedlichster politischer Anschauung. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen Tür an Tür. Zu größeren politischen Auseinandersetzungen ist es nie gekommen. Man traf sich, dazu gehörten auch andere Nachbarn, an der Wasserpumpe des Hofes und an langen Sommerabenden vor der Einfahrt des Hofes, um die Tagesereignisse zu diskutieren. Radiohören, auch das Sendersuchen und Lauschen mittels „Detektor“, war von der Besatzung verboten worden.

Die Schmittens wohnten in der „Hütte“, einem alten Hofgut an der Strundener Straße ganz in Thurnerhofnähe. Die drei Söhne „Pitter“, „Tschüng“ und „Juppen“ waren meine Freunde. Im Vorderhaus wohnte im Parterre die Familie Schmitz, die an Fronleichnam die „Mutter Gottes“ in die Haustür stellte. Im ersten Stock wohnte unter anderen Peter Stahl mit Familie. Er war Kölner Stadtverordneter und Fraktionsführer der kommunistischen Partei. Am 1. Mai hißte er die rote Fahne. Wenn Peter Stahl in die Stadtverordnetenversammlung einzog, rief er, so wurde gesagt: „All - Heil, ihr Buren!“ Damals benötigte der Kölner Oberbürgermeister Dr. Konrad Adenauer zum Bau der Mülheimer Hängebrücke die Stimmen der Kommunisten. Adenauers Erklärung, daß sein Brückenbauvorschlag weitaus weniger Stahl benötigte als eine Bogenbrücke, brachte Peter Stahl und seine Fraktion dazu, für den Vorschlag Adenauers zu stimmen. Peter Stahl führte zur Begründung seiner Entscheidung an, daß er die „Schlotbarone“ von der Ruhr nicht unnötig bereichern wolle. Auf das Erwirken des Peter Stahl hin durften die Kirchenglocken zur Frühmesse nicht mehr läuten, weil die Schichtarbeiter in ihrem Schlaf gestört wurden. Peter Stahls Mutter hatte ein schönes kleines Besitztum auf dem Thurner Kamp. Sie zog neben anderen Tieren Ziegen heran. Jedes Jahr zu Ostern wurde ein mit Ziegenmilch aufgezogenes Bocklamm geschlachtet. Zu einem Mittagsmahl, zu dem es Lammfleisch gab, war ich einmal eingeladen. Dergleichen habe ich zu Hause nie bekommen. Wenn wir mit den Enkeln aus dem Hause Stahl spielten und es auf dem Hof zu bunt trieben, rief sie: „ Mater üch wohl von mingem Hoofe, he hatte nöx to benedeien!“ Sie sprach Pullheimer Dialekt. Einmal erwähnte Sie mir gegenüber: „ Lett (leidet, erlaubt) dien Vatter, dat die Frau Pulm do kruggen dit?“ Frau Pulm war eine Nachbarin die auch Ziegen hielt. Sie hatte hinter unserm Baumhof einen Streifen Gras für eine Reichsmark gepachtet. Sie hatte das Gras gemäht und trug es in einem Tuch eingeschlagen auf dem Kopf nach Hause.

Unweit des Thurner Hofkreuzes, in einem Fachwerkhaus Hauptstraße Nr. 4, wohnte bei ihrem Bruder das „Boxbergs Jriet“. Sie litt an Fallsucht. Sie verdiente sich ein Zubrot mit dem Austragen der Mülheimer Zeitung. Wenn sie mit Zeitungen beladen einen Anfall bekam und hinfiel, hat sich hinterher niemand über die verschmutzten Zeitungen beschwert. Jriet holte sich bei meiner Mutter abends ein „Hälfje“ Milch im Steinkrug (stene Döppe). Der Weg am Kreuz vorbei war immer sehr schlammig und ohne Beleuchtung. Sie kam öfters bei Einbruch der Dunkelheit wenn bei uns noch kein Licht brannte. Im Winter betrat sie durch die Hintertür, durch „et Pöötzje“ unser Haus. In der Diele hielt sie dann inne und stand da wie eine Bildsäule. Ehe wir sie recht bemerkten hatte sie einen Anfall und lag auf den Steinplatten. Vielfach zerbrach dabei ihr mitgebrachter Krug.

Im Jahre 1923 hatten die Gebete der Bittprozession ihre Wirkung getan. Die Kornscheune am Thurner Hof war, wie mein Vater sagte, „keile voll“. Zur Erntezeit und darüber hinaus zur Druschzeit nach der Ernte, wozu die Dampfdreschmaschine angemietet wurde, war das Kreuz durch den Ostwind bei gutem Wetter ganz voll Kaff und Staub. Um die Arbeit bewältigen zu können stellte der Vater vorübergehend noch zwei Knechte ein. Hinterher wurde vermutet, daß es einer dieser Knechte gewesen sein müßte, der die Scheune in Brand gesteckt hatte, hatten sich doch diese Leute eine längere Beschäftigungsdauer versprochen und vielleicht ein höheres Entgelt erwartet. Die Feuerversicherung zahlte eine horrende Summe Geld. Mein Vater konnte sich dafür wenige Tage später nur eine Wagenladung Stroh kaufen, denn die Geldentwertung war auf ihrem Höhepunkt. Wovon sollten wir nach dem Brand die rund 8.000,00 RM Pacht an die Stadt Köln zahlen? Das Jahr 1924 war das Jahr des „Höfesterbens“. Es blieben uns nur die Erlöse aus der Hardthofscheune und die Hackfrüchteernte. Die Pacht wurde von der Stadt gestundet und auf die künftigen Jahre verteilt.

Franz Werres / Hans Michels